Joachim Ditz

Aus einem Brief an eine Bekannte

Ich habe Noro leider nur einmal gesehen. Dies war in Berlin auf einem völlig überfüllten Lehrgang.
Am ersten Tag hatte ich nach der Anspannung der langen Fahrt das Training als willkommene Entspannung empfunden und war sehr fröhlich. In der Nacht hatte ich im Dojo geschlafen und war morgens noch nicht ganz wach.

Als Noro mich bei der Begrüßung von dem Training mit meinem zerknitterten Gesicht da sitzen sah, kam er auf mich zu und erklärte allen, dass ich am Tag vorher noch fröhlich gewesen sei und jetzt dort stattdessen mit einem so finsteren Gesicht sitze. Er forderte mich auf, die zwölf Zähne Buddhas zu zeigen (lächeln) und lächelte mich unaufhörlich an. Als dies nicht half, fing er an mich zu interviewen. Irgendwann fragte er mich dann, ob ich verheiratet war. Ich beantwortete die Frage korrekt, wie man sie auf einem Amt beantworten würde und sagte, dass ich geschieden sei. Sofort fing er an, wie der Clown Popov sein Gesicht zu verziehen und so zu tun, als ob er weinte. „Hu Hu! Ich bin geschieden! Ich bin allein!“. Er hörte nicht eher auf als bis ich lachen musste, obwohl mir die ganze Sache vor versammelter Mannschaft sehr unangenehm war.

Wie immer habe ich keine Energie gespürt, außer meiner eigenen, weil ich mich doch ein bisschen geärgert habe. Ich mag keine verordnete Fröhlichkeit. Wir leben in einer Zeit, in der man immer glücklich erscheinen muss. Selbst wenn ein naher Angehöriger gestorben ist wird erwartet, dass man am nächsten Tag auf der Arbeit lächelt. Im Laufe des Kurses spürte ich aber, dass sich etwas in mir gelöst hatte. Mir wurde auch klar, dass Noros Lächeln nicht das aus einem Werbefilm oder einer Soap war.

Ich habe keinen Guru und will auch keinen.

Ich will aber offen sein, für solche kleinen Momente in denen einem die Augen geöffnet werden. Ob Guru oder nicht. Ob Schüler oder nicht. Ich muss es dann aber sein, der die Augen öffnet und wenn man bereit dafür ist, muss es kein Guru sein, der dies bewirkt. Für mich ist es auch nicht der Guru, der das Besondere ist, sondern das Besondere ist die Weisheit, die ich erkenne und der Guru vermittelt sie mir.

Ich hatte den Eindruck, dass Noro einer der wenigen Menschen war, der nach Buddhas Worten leben konnte: Tue jeden Atemzug als sei es dein letzter! Sterbe, als würdest Du ewig leben!

Der erste der beiden Sätze bedeutet für mich, dass jeder Moment so kostbar ist, dass man ihn genießen muss. Das ist selbst der Fall, wenn man krank oder traurig ist.
Wenn man aber denkt, dass man sterben muss, verzweifelt man und es gelingt einem nicht den Moment zu genießen. Deshalb der zweite Satz: Ignoriere, dass Du sterben musst.

Sigrid